Wissenschaftliche Leitlinien ermöglichen eine evidenzbasierte Behandlung. Die Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF), der Bundesärztekammer und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung fassen das aktuelle Wissen zusammen bezüglich der Diagnostik und Therapie von psychischen Erkrankungen.
Darauf aufbauend beinhalten sie systematisch entwickelte Entscheidungshilfen. Dabei ist angegeben, wie gut eine solche Empfehlung wissenschaftlich belegt ist (Evidenz). Betrachtet werden kontrollierte oder randomisiert-kontrollierte Studien über psychosoziale Interventionen (Psychotherapie) und medikamentöse Interventionen.
Die höchste Güte haben Leitlinien der Kategorie S3. Sie sind am verlässlichsten, aber auch sehr aufwändig in der Entwicklung. Beispielsweise dauerte die Ausarbeitung der Therapie-Leitlinie bei Autismus-Spektrum-Störungen 5 Jahre.
Leitlinien bewerten auch die Qualität vorhandener Studien. Dies ist wichtig, da leider auch viele methodisch schlecht gemachte Studien existieren, deren Ergebnissen man keine Beachtung schenken darf (Beispiel für Kritik an schlechter Forschung).
Beispiele für Leitlinien, die speziell im Bereich Psychotherapie wichtig sind:
Depression (Nationale Versorgungsleitlinie)
Posttraumatische Belastungsstörungen
Störungen des Sozialverhaltens
Suizidalität im Kindes- und Jugendalter
Enuresis / Nicht-organische Harninkontinez
Fetale Alkoholspektrumstörungen
Depersonalisations-Derealisationssyndrom
Schwere psychische Erkrankungen
Psychische Störungen im Kleinkindalter
Darüber hinaus gibt es eine Vielzahl an Leitlinien, die nicht direkt psychische Erkrankungen betreffen, deren Kenntnis aber im Kontakt mit betroffenen Patient*innen eine Rolle spielen können. Dazu gehören Leitlinien über körperliche Probleme wie die Leitlinie zum Reizdarmsyndrom, die Leitlinie zur psychosomatischen Diagnostik und Therapie von Frauen mit wiederholten Spontanaborten, die Leitlinie zu Diabetes mellitus im Kindes- und Jugendalter und viele mehr.
Alle wissenschaftlichen Leitlinien weisen darauf hin: Die Anwendbarkeit der Leitlinie muss in jedem Fall individuell geprüft werden. In begründeten Fällen kann eine Abweichung von den Empfehlungen je nach Indikationsstellung und Präferenzen von Patient*innen im Rahmen der partizipativen Entscheidungsfindung erforderlich sein.
Nein. In der Versorgungspraxis gibt es viele Behandler*innen, die keine leitliniengerechte Behandlung durchführen. Studien über die Versorgungsqualität in Deutschland belegen dies. Das ist möglich, da es sich aus rechtlicher Sicht bei wissenschaftlichen Leitlinien nur um eine unverbindliche Empfehlungen einer privaten Institution handelt (Nölling 2014 über die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs).
Außerdem ist die Freiheit der Berufsausübung grundgesetzlich geschützt. Zusätzlich gibt es die Therapiefreiheit.
Hinzu kommt die Meinungsfreiheit (Art 5 GG). Beispiel: Wenn ein Behandler eine Krankheit diagnostiziert, wird damit grundsätzlich nicht festgestellt, dass diese Krankheit vorliegt (Tatsachenbehauptung) - juristisch handelt es sich bloß um eine Meinungsäußerung. Meinungen können nicht objektiv "richtig" oder "falsch" sein (Zach 2009; vgl. Wienke 2012).
Das National Institute for Health and Care Excellence (NICE) ist ein Herausgeber von Leitlinien, z.B. die clinical guideline "depression in adults: recognition and management" | www.nice.org.uk
Das internationale Cochrane-Netzwerk veröffentlicht wissenschaftliche Evidenz zu Fragestellungen der Gesundheitsversorgung und zur evidenzbasierten Medizin. Ein Cochrane Review ist eine systematische Übersichtsarbeit. Abstracts (Zusammenfassungen) finden sich auf www.cochranelibrary.com