<<Die Jugend liebt heutzutage den Luxus, sie hat schlechte Manieren, verachtet die Autorität, hat keinen Respekt vor den Älteren und schwatzt, wo sie arbeiten sollten; die jungen Leute stehen nicht mehr auf, wenn Ältere das Zimmer betreten, sie widersprechen ihren Eltern, schwadronieren in der Gesellschaft, verschlingen bei Tisch die Süßspeisen, legen die Beine übereinander und tyrannisieren ihre Lehrer>> - Sokrates, geboren 469 v. Chr. (wiki/Sokrates)
Zu unterscheiden ist sogenanntes "schlechtes Benehmen" von Sozialverhaltensstörungen im Sinne einer psychischen Erkrankung.
Störungen des Sozialverhaltens zeigen sich durch ein durchgängiges Muster oppositionellen, aggressiven und dissozialen Verhaltens. Sozialverhaltensstörungen können unterschieden werden in zwei Formen:
Sozialverhaltensstörungen gehören zu den häufigsten Gründen, weshalb Kinder und Jugendliche in einer ambulanten Psychotherapiepraxis vorgestellt werden. Sie sind der häufigste Grund für stationäre Aufnahmen in Kliniken für Kinder- und Jugendpsychiatrie (Hepertz-Dahlmann 2011: 307f). Sie sind sehr weit verbreitet unter Kinder und Jugendlichen, die in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe leben (Schmidt et al. 2008). Die gesellschaftlichen Kosten, die durch Sozialverhaltensstörungen entstehen (im Gesundheitssystem, der Jugendhilfe, der Arbeitslosenhilfe, der Gerichte, Justizvollzugsanstalten usw.) sind enorm.
Bis zu 70% aller Therapieanfragen, die ich erhalte, stammen von Eltern, Pflegeeltern, Familienhelfern, Erziehern stationärer Einrichtungen der Jugendhilfe, Sozialpädagogen des Jugendamtes oder dem Vormund von Kindern und sind bezogen auf Sozialverhaltensstörungen.
Störungen des Sozialverhalten nehmen oft einen problematischen Verlauf. Besonders wenn die Störung schon früh im Leben eines Kindes auftritt, bleibt das aggressive Verhalten oft stabil im Verlauf der weiteren Entwicklung. Wenn gleichzeitig ADHS vorhanden ist, steigt die Wahrscheinlichkeit für anhaltendes aggressives und dissoziales Verhalten deutlich.
Es kommt vermehrt zu schulischem Misserfolg, Schulabbrüchen, Substanzmissbrauch, Straftaten sowie gesundheitlichen Problemen. Auch Freundschaften zu Gleichaltrigen, die keine Sozialverhaltensprobleme haben, sind weniger häufig bei Betroffenen.
"Bei Störungen des Sozialverhaltens sind zusätzliche Jugendhilfemaßnahmen häufig unumgänglich. Möglichkeiten sind hier u.a. sozialpädagogische Familienhilfe, Erziehungsbeistandschaften, pädagogische Gruppen bis hin zu Unterbringungen in Einrichtungen der stationären Jugendhilfe. Diese Maßnahmen sind nur zielführend bei hoher Durchführungsqualität, -intensität und frühzeitiger Implementierung". Es braucht eine "exzellente Zusammenarbeit der beteiligten Helfersysteme" (Maur, Schwenck 2013: 25f).
In Bezug auf eine Psychotherapie muss geklärt werden, ob die Bezugspersonen (Eltern / Lehrer*innen / Erzieher*innen etc.) motiviert und in der Lage sind, ihr Verhalten zu verändern und psychotherapeutische Maßnahmen zur Verbesserung der Interaktion mit dem Kind / Jugendlichen umzusetzen. Dies kann zum Beispiel durch eine psychische Störung eines Elternteils erschwert sein. Manche Eltern schaffen es nicht oder wollen es nicht, ihre negativen, ablehnenden Gefühle ihren Kindern gegenüber zu verändern. Wenn dadurch eine Besserung der Sozialverhaltensstörung durch eine Psychotherapie unmöglich ist, sollten Maßnahmen der Kinder- und Jugendhilfe genutzt werden. Gibt es Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung wird mit dem Kind / dem Jugendlichen und den Eltern dies erörtert entsprechend dem Gesetz zur Kooperation und Information im Kindesschutz.
Ein erhöhtes Risiko, eine Sozialverhaltensstörung zu entwickeln haben Kinder mit diesen Risikofaktoren: Misshandlungs- oder Gewalterfahrungen; delinquentes oder antisoziales Verhalten der Eltern; andauernde Konflikte in der Familie; sozioökonomisch benachteiligte Familie.
Die Entstehung von Sozialverhaltensstörungen ist immer multifaktoriell. Zu denken ist dabei an familiäre, psychische, genetische und neurobiologische Faktoren. Hier ein paar Beispiele:
Faktoren vor und bei der Geburt: Die Auftretenswahrscheinlichkeit von Sozialverhaltensstörungen ist erhöht bei Nikotin- oder Alkoholkonsum in der Schwangerschaft, Stressbelastungen in der Schwangerschaft, ein geringes Geburtsgewicht, Frühgeburt.
Faktoren nach der Geburt: Eine negative Atmosphäre in der Familie und dadurch ungünstige Bindungserfahrungen in der frühen Kindheit wirken sich negativ aus. Das ist vor allem der Fall, wenn die Eltern-Kind-Interaktion durch negative Gefühle wie Ärger geprägt ist. Ein Risikofaktor besteht, wenn die Eltern auf das Kind in einer unbeständigen Weise (inkonsistent) reagieren. Auch der wenig feinfühlige Umgang mit dem Kind kann zur Problematik beitragen.
Psychosoziale Belastungen: Misshandlungs- und Gewalterfahrungen des Kindes, Vernachlässigung, Trennungen, psychische Erkrankungen eines oder beider Elternteile, geringes Einkommen, schlechte Wohnverhältnisse. Eine sehr bedeutende Rolle spielen ungünstige Erziehungsmethoden und häufige Konflikte der Eltern. Durch diese Belastungen ist es für das Kind erschwert, von den Eltern hilfreiche Strategien zur Emotionsregulation zu erlernen.
Probleme von Kinder und Jugendliche mit Sozialverhaltensstörungen: Betroffene haben oft Defizite im Bereich der Verhaltenssteuerung (dies betrifft sogenannte exekutive Funktionen). Sie haben Probleme, ihr Verhalten vorauszuplanen und an die Umstände anzupassen. Hinzu kommen oft Probleme im Bereich der Informationsverarbeitung: Das Verhalten anderer Menschen wird vermehrt als provozierend oder feindselig interpretiert. Die Problematik von Kindern / Jugendlichen mit einer Störung des Sozialverhaltens wird oftmals dadurch größer, dass sie sich anderen Jugendlichen anschließen, welche dieselben Verhaltensprobleme haben.
Durchgeführt wird immer die Erhebung einer Anamnese. Für die Beurteilung eines Kindes oder Jugendlichen mit Verdacht auf eine Störung des Sozialverhaltens können zudem Fragebögen eingesetzt werden, die von den Bezugspersonen (Eltern, Lehrer, Erzieher) oder vom Kind / Jugendlichen selbst ausgefüllt werden.
Hierzu nutze ich beispielsweise diese Fragebögen:
Eine Störung des Sozialverhaltens ist nicht leicht zu behandeln. Die Störung ist nicht durch eine einzelne Maßnahme in den Griff zu bekommen (Bachmann et al. 2008). Das aufeinander abgestimmte und langfristige Zusammenarbeiten mehrere Fachkräfte auf der Basis eines gemeinsamen Störungsverständnisses ist unumgänglich. Zu diesen Fachkräften, die als Team zusammenarbeiten müssen, gehören: Psychotherapeut*innen, Psychiater*innen, Lehrer*innen, Erzieher*innen, Sozialpädagog*innen des Jugendamtes und weitere Fachkräfte. Falls eine solche Zusammenarbeit nicht gelingt, wird die Behandlung nicht zielführend verlaufen können.
Bei den Behandlungsmaßnahmen unterscheidet man solche, die beim Kind selbst ansetzen (Kind-zentrierte Interventionen) und Behandlungsmaßnahmen, die bei den Bezugspersonen ansetzen (Bezugspersonen-zentrierte Interventionen). Relevante Bezugspersonen sind in der Regel vor allem die Eltern, Erzieher*innen und Lehrer*innen.
Das psychotherapeutische Vorgehen besteht mit allen Beteiligten zunächst aus diesen drei Schritten:
Sehr oft ist es nötig und entscheidend, dass sich die Bezugspersonen (Eltern, Lehrer, Erzieher) anders als bisher dem Kind oder Jugendlichen gegenüber verhalten. Fast immer ist es notwendig, dass sie neue Erziehungsfertigkeiten erlernen und die Beziehungsqualität zum Kind oder Jugendlichen verbessern.
Da antisoziales Verhalten von Kindern mitverursacht wird durch inkonsistentes und bestrafendes Erziehungsverhalten, mangelnde Wärme, geringe Wahrnehmung für angemessenes Verhalten, muss hier angesetzt werden, wenn eine Reduktion der Sozialverhaltensstörung erreicht werden soll.
Für die Bezugspersonen ist es daher eine wichtige Maßnahme, positive Erlebnisse zu schaffen im Umgang mit dem Kind / dem Jugendlichen. Als nächstes ist es wichtig, dass die Bezugspersonen auf angemessenes Verhalten des Kindes reagieren, statt es als selbstverständlich hinzunehmen: Indem sie Anerkennung ausdrücken oder ein Lob aussprechen. Weitere Behandlungsbausteine der Therapieprogramme THOP und Triple P sind hier dargestellt.
Ansatzüunkte für Kind-zentrierte Interventionen: Einige Kinder und Jugendliche haben nur gelernt, Konflikte mit Gewalt zu lösen. Ihnen fehlen aber alternative Konfliktlösestrategien, die sie erst erlernen müssten.
Auch ein Problemlösetraining (wikipedia.org/wiki/Problemlösetraining) kann hilfreich sein, um herauszuarbeiten, welche verschiedenen Möglichkeiten es gibt, in einer Problemsituation zu reagieren.
Betroffene Kinder und Jugendliche können lernen, ihren Umgang mit Gefühlen zu verbessern (Emotionsregulation) um mehr Affektkontrolle und Impulskontrolle zu erreichen.
Therapiemethoden, die zum Einsatz kommen können:
Therapieansätze, die einen sehr guten Wirksamkeitsnachweis in Studien erbracht haben, sind:
Die wissenschaftliche Leitlinie fordert, dass Lehrer*innen und Erzieher*innen geschult werden im Umgang mit Kindern und Jugendlichen, die eine Sozialverhaltensstörungen haben. Lehrer*innen und Erzieher*innen sollen zum einen die Verursachung von Sozialverhaltensstörungen verstehen. Zum anderen sollen sie ein Verständnis für die Beeinflussung der Störung entwickeln. Für sie werden grundsätzlich dieselben Ansatzpunkte empfohlen, die auch Eltern empfohlen werden. Dazu zählen wie oben genannt die Verbesserung der Interaktion mit dem Kind / dem Jugendlichen, das Anerkennen positiven Verhaltens und konsistentes Reagieren auf oppositionelles, aggressives oder dissoziales Verhalten.
Da ich kein Lehrer bin, weiß ich nicht, inwieweit wissenschaftliche, empirische Erkenntnisse über das Unterrichten das Handeln von Lehrer*innen leiten. Eine hilfreiche Lektüre für Lehrer*innen als Anregung ist meiner Meinung nach: "Lehrerkrisen im Berufsalltag. Zum Umgang mit Spannungen zwischen Normen und Orientierungsrahmen" (2018; Jan-Hendrik Hinzke).
Falls eine Sozialverhaltensstörung in Kombination mit einer Aufmerksamkeitsdefizits- / Hyperaktivitätsstörung (ADHS) auftritt, kann eine Medikation indiziert sein. Hierzu sollte ein Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie befragt werden. Eine Medikation kann dazu führen, dass die oppositionelle bzw. aggressive Symptomatik sich bessert. Hierfür infrage kommen vor allem Stimulanzien (Methylphenidat, Amfetaminpräparate). Falls zusätzlich impulsives aggressives Verhalten auftritt in schwerwiegender Weise und die vorgenannte Behandlung nicht ausreichend wirksam ist, kann eine Medikation mit einem atypischen Neuroleptikum (z.B. Risperidon) erwogen werden.
Falls eine alleinige Sozialverhaltensstörung ohne ADHS vorliegt, soll im Normalfall keine Pharmakotherapie durchgeführt werden. Nur wenn die Psychotherapie erfolglos ist und massive Aggressivität weiter besteht, sollte eine medikamentöse Behandlung erwogen werden, jedoch nicht als Dauermedikation. Wirksamkeitsnachweise gibt es für Risperidon. Weitere Informationen und Aufklärung über die Wirkungen und Nebenwirkungen, Nutzen und Risiken erhalten Kinder, Jugendliche und Eltern bei einem Spezialisten für die medikamentöse Behandlung von Verhaltensstörungen im Kindes- und Jugendalter (z.B. von Kinder- und Jugendpsychiatern).
Ratgeber aggressives und oppositionelles Verhalten bei Kindern: Informationen für Betroffene, Eltern, Lehrer und Erzieher (F. Petermann, M. Döpfner, A. Görtz-Dorten)
Wackelpeter & Trotzkopf (M. Döpfner, S. Schürmann)
Wackelpeter & Trotzkopf in der Pubertät (C. Kinnen, C. Rademacher, M. Döpfner)
Einige Eltern berichten, ihnen habe dieses Buch weitergeholfen: Neue Autorität: Das Geheimnis starker Eltern (H. Omer, P. Streit)
The Incredible Years. A Trouble-Shooting Guide for Parents of Children Aged 2-8 Years (C. Webster-Stratton)
Wege aus der Brüllfalle (Wilfried Brüning)
Baierl, M. (2010): Herausforderung Alltag: Praxishandbuch für die pädagogische Arbeit mit psychisch gestörten Jugendlichen
Bachmann, M., Bachmann, C., Rief, W. & Mattejat, F. (2008). Wirksamkeit psychiatrischer und psychotherapeutischer Behandlungen bei psychischen Störungen von Kindern und Jugendlichen. Eine systematische Auswertung der Ergebnisse von Metaanalysen und Reviews. Teil II: ADHS und Störungen des Sozialverhaltens.
Hepertz-Dahlmann, B. (2011): Störungen des Sozialverhaltens, Dissozialität und Delinquenz. In H. Remschmidt: Kinder- und Jugendpsychiatrie. Eine praktische Einführung.
Maur, S., Schwenck, C. (2013): Störungsübergreifende Gruppentherapie mit Kindern und Jugendlichen. Kompetenzen fördern mit FESKKO.
Schmidt, M., Goldbeck, L., Nuetzel, J. M. Fegert (2008): Prevalence of mental disorders among adolescents in German youth welfare institutions.
AWMF-Leitlinie: Störungen des Sozialverhaltens
NICE-Leitlinie: Antisocial behaviour and conduct disorders in children and young people