Schmerz ist ein „unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis, das mit aktuellen oder potentiellen Gewebeschädigungen verknüpft ist oder mit Begriffen solcher Schädigungen beschrieben wird“ laut Definition der International Association for the Study of Pain. Diese Definition hat weitreichende Folgen für das Verständnis und die Behandlung von Schmerz.
Schmerz ist nie ein rein körperliches Phänomen, denn er geht immer mit psychischen Vorgängen (Wahrnehmung, Bewertung etc.) und dem Verhalten einer Person einher. Schmerz hat einen starken kognitiven, emotionalen und auf das Verhalten wirkenden Einfluss: Es kommt zu Veränderungen der Gedanken, Gefühle und zu spezifischem Schmerzverhalten (oftmals in Form von Vermeidungsverhalten). Studien belegen den Zusammenhang zwischen Schmerzen und psychischen Bedingungen. Beispielsweise verstärkt Angst und die Intensität des wahrgenommenen Schmerzes. Der Umgang mit dem Schmerz beeinflusst in einem großen Ausmaß das Befinden von Patient*innen.
"Dies ist der größte Fehler bei der Behandlung von Krankheiten, dass es Ärzte für den Körper und Ärzte für die Seele gibt, wo doch beides nicht voneinander getrennt werden kann" - Platon (wiki/Platon)
Der modernen Schmerztherapie liegt das biopsychosoziale Krankheitsmodell zugrunde. In Abkehr vom biologisch-medizinischen Modell werden die Ursachen von Schmerzen nicht mehr entweder durch psychische oder durch somatische Faktoren erklärt. Diese Dichotomie ist weder hilfreich, noch wissenschaftlich haltbar. Schmerzen sind immer eine Interaktion somatischer Faktoren mit psychischen Faktoren.
Das biopsychosoziale Modell hat zur Folge, dass es auch nicht sinnvoll ist, an der "Psychosomatik" als Teilgebiet der Medizin festzuhalten (Egger 2005). Die Psychosomatik basiert auf dem Konzept, dass "körperliche" Erkrankungen mitverursacht sein können durch psychische und Verhaltensfaktoren (Psychogenese). Nach dem biopsychosozialen Modell "kann es keine psychosomatischen Krankheiten geben - genau so wenig wie es nicht-psychosomatische Krankheiten gibt" (ebd.).
Im US-amerikanischen Klassifikationssystem DSM-5 gibt es keine Unterscheidung zwischen »medizinisch begründbaren« vs. »medizinisch nicht begründbaren« Schmerzen. Das Klassifikationssystem der Weltgesundheitsorganisation (WHO), ICD-10, hält leider an der nicht gerechtfertigten Dichotomie fest. In der deutschen Fassung der ICD-10 gibt es einzig bei der Diagnose "Chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren" (F45.41) eine Beachtung des biopsychosozialen Konzeptes.
Hilfreich ist die Multiaxiale Schmerzklassifikation – Psychosoziale Dimension (MASK-P). Die MASK-P ermöglicht eine dem Forschungsstand entsprechende Integration somatischer und psychosozialer Anteile bei der Vergabe von Schmerzdiagnosen (Kröner-Herwig et al. 2017: 247).
Akute Schmerzen haben eine sinnvolle Funktion: Sie sind ein Alarmsignal, das uns zu einer sinnvollen Reaktion motivieren soll. Wenn man seine Hand auf eine heiße Herdplatte legt, sorgt der Schmerz für eine schnelle, sinnvolle Reaktion (dem Zurückziehen der Hand zum Schutz vor einer schweren Verbrennung). Akute Schmerzen haben meist eine erkennbare Ursache. Das kann z.B. ein Knochenbruch sein oder ein Entzündung. Verletzte Körperteile werden geschont und so weitere Schädigungen vermieden.
Es ist sehr hilfreich und sehr wichtig, wenn Patient*innen sich Wissen aneignen über die Schmerzentstehung, die Schmerzverarbeitung und die Chronifizierung von Schmerzen. Wichtige Kenntnisse sind zum Beispiel:
Nicht ausreichend behandelte Schmerzen hinterlassen Spuren im Gehirn - genauso wie jede andere Lebenserfahrung. Synaptische Veränderungen bezüglich Schmerz werden als Schmerzgedächtnis bezeichnet. Die Empfindlichkeit für zukünftige Schmerzreize kann hierdurch erhöht sein. Das Schmerz-Gedächtnis erklärt auch, warum Betroffene Schmerzen spüren, obwohl die Ursache für den Schmerz schon lange nicht mehr besteht.
Im Jahr 1965 wurde in der Fachzeitschrift Science ein Artikel veröffentlich, der einen großen Einfluss hatte für ein neues Verständnis von Schmerz: Pain mechanisms: a new theory. Die Kontrollschranken-Theorie (Gate-Control-Theory) besagt: Vom Gehirn kommende Signale beeinflussen die eingehenden Schmerzsignale. Die Schmerzsignale können vom Gehirn einerseits intensiviert oder andererseits reduziert oder sogar blockiert werden. So kommt die Theorie zu ihrem Namen: Schmerz entsteht nicht einfach nur, indem Schmerz-Sensoren aktiviert werden. Stattdessen gibt es noch ein Tor, welches kontrolliert, ob bzw. in welcher Intensität ein Schmerzsignal hindurch kommt. Erst danach kommt es ggf. zur Schmerzwahrnehmung.
Die Rolle des Gehirns bei der Schmerzwahrnehmung wird daran deutlich, dass Betroffene nach einem schweren Unfall oft zunächst keinen Schmerz spüren, da sie sehr aufgeregt sind. Die Theorie erklärt auch, warum Hypnose, Placebos oder Akupunktur zur Schmerzlinderung eingesetzt werden können. Es zeigt sich, dass die mentale Einstellung einer Person gegenüber Schmerzen, über die Schmerzwahrnehmung mitentscheidet.
Wie stark ein Schmerz ist, wird in erster Linie von der Persönlichkeit jedes Einzelnen bestimmt, von seinen Gefühlen, Erwartungen und persönlichen Erfahrungen. Die Schmerzstärke wird in der Praxis nicht durch Messgeräte bestimmt, sondern durch die Einschätzung des Betroffenen. Bewährt haben sich Skalen mit einer Unterteilung z.B. von 0 bis 10. Null heißt kein Schmerz, zehn bedeutet stärkster vorstellbarer Schmerz.
Schmerzen können außerdem eingeteilt werden in diese Formen:
Die Behandlung chronischer Schmerzen sollte interdisziplinär erfolgen auf Grundlage eines gemeinsamen Schmerzkonzeptes: Ärzte und Psychotherapeuten sollten als Team zusammenarbeiten, am besten zusätzlich mit Physiotherapeuten.
inklusive kognitiv-behavioraler Therapiemodule (kognitive Verhaltenstherapie). In den meisten Fällen ist eine ambulante Behandlung einer stationären Behandlung vorzuziehen, da sich bei einer ambulanten Therapie die neuen Kenntnisse und Verhaltensweisen leichter in den Alltag übertragen lassen. Behandlungserfolge sind möglich (vor allem eine Reduktion der Schmerzbelastung und Beeinträchtigung sowie eine Verbesserung der Lebensqualität), auch wenn chronischer Schmerz ein nicht leicht zu behandelndes Syndrom darstellt.
In der psychotherapeutischen Praxis spielen diese Schmerzformen oftmals eine Rolle:
Deutsche Gesellschaft für psychologische Schmerztherapie und Forschung e.V.: dgpsf-verein.de
Deutsche Schmerzgesellschaft e.V.: schmerzgesellschaft.de inklusive des Angebotes einer SchmerzApp
PsychCast Folge 113: Schmerz: Nichts, was Du über akute Schmerzen weißt, gilt für chronische Schmerzen, erklären Dr. Jan Dreher und Dr. Alexander Kugelstadt.
H.-G. Nobis, R. Rolke, Roman, T. Graf-Baumann (2020): Schmerz - eine Herausforderung
B. Kröner-Herwig, J. Frettlöh, R. Klinger, P. Nilges (2017): Schmerzpsychotherapie. Grundlagen - Diagnostik - Krankheitsbilder - Behandlung.
J. W. Egger (2005): Das biopsychosoziale Krankheitsmodell. Grundzüge eines wissenschaftlich begründeten ganzheitlichen Verständnisses von Krankheiten.