Etwa 3% der Bevölkerung erkranken an einer bipolaren Störung (Lebenszeitprävalenz) laut wissenschaftlicher evidenzbasierter Leitlinie. Durchschnittlich tritt die Störung um das Alter von 20 Jahren erstmalig auf (Meyer et al. 2013). Einzelne Symptome zeigen sich meistens schon früher, im Alter von 15 bis 19 Jahren (Lish et al. 1994). Viele bipolare Störungen beginnen mit einer depressiven Episode.
Bipolare Störungen gehören zu den schweren psychischen Störungen mit chronischem Verlauf. Eine frühzeitige Diagnostik und Behandlung ist sehr anzuraten um problematische Folgen (z.B. Konflikte mit der Polizei, finanzielle Probleme, Suizidgefahr) so gut wie möglich zu vermeiden.
Man unterscheidet unipolare Störungen von bipolaren Störungen: Bei unipolaren Störungen erleben Patient*innen depressive Phasen mit niedergeschlagener Stimmung, dem Verlust von Interesse oder Freude und weiteren Symptomen wie z.B. Schlafstörungen oder Energielosigkeit. Bei bipolaren Störungen erleben Patient*innen depressive Phasen und manische Phasen. Früher hat man von einer "manisch-depressiven Störung" gesprochen.
Aber auch bei Patient*innen mit (fast) ausschließlich manischen Phasen, wird der Begriff bipolare Störung genutzt. Es kommt in circa 20% der Fälle vor, dass Betroffener vor allem manische Phasen erleben.
Von einer manischen Episode spricht man, wenn einige der folgenden Symptome für einige Zeit gleichzeitig vorhanden sind und sich das Verhalten der Betroffenen währenddessen deutlich verändert und dadurch der Alltag, das berufliche oder zwischenmenschliche Leben deutlich beeinträchtigt sind:
In manischen Phasen beschäftigen sich Betroffene oftmals übermäßig mit angenehmen Tätigkeiten, die zu negativen Konsequenzen führen können (z.B. übermäßiges Geld ausgeben). Menschen in einer Manie fehlt oft die Einsichtsfähigkeit, dass es sich hierbei um Symptome einer bipolaren Störung handeln kann.
Hypomane Episoden ähneln manischen Episoden, sie sind aber weniger stark ausgeprägt. Für die Diagnosestellung muss die gehobene oder reizbare Stimmung mindestens 4 Tage lang vorhanden sein. Oft erleben Patient*innen diesen Zustand als angenehm. Freunde oder Familienangehörige erkennen aber häufig, dass dieser Stimmungszustand nicht zu der ihnen bekannten Person passt. Hypomanien werden von Betroffenen selten belastend oder bedrohlich erlebt, eher positiv und erwünscht.
Von einer gemischten Symptomatik spricht man dann, wenn manische und depressive Symptome zeitgleich vorhanden sind bzw. sich schnell abwechseln.
Es ist für die Behandlungsplanung und den Verlauf wichtig zu unterscheiden, ob auch manische Phasen auftreten (Bipolar-I-Störung) oder ob hypomanische Phasen auftreten (Bipolar-II-Störung).
Durchschnittlich dauern akute Phasen 8 bis 12 Wochen. Unbehandelt halten manische und hypomane Episoden im Durchschnitt wenige Monate an, während depressive Episoden oft länger andauern. Bei den meisten Patient*innen treten mehr depressive Phasen im Vergleich zu den manischen Phasen auf. Die Zeit ohne akute Symptomatik wird als euthyme Phase bezeichnet.
Es gibt einen Subtyp bipolarer Störungen, der als "Rapid Cycling" bezeichnet wird. Der Verlauf der Episoden ist hierbei kürzer, sodass es zu schnelleren Phasenwechseln kommt. Zur Diagnosestellung müssen innerhalb von 12 Monaten mindestens vier voneinander abgrenzbare Episoden aufgetreten sein (ICD-10).
In der Diagnostik ist es nicht immer leicht, normale Stimmungsschwankungen, die bei jedem Menschen auftreten, abzugrenzen von einer bipolaren Störung. Dies kann insbesondere bei der leichteren Ausprägungsform der bipolaren Störung, der hypomanischen Form, der Fall sein.
Um zu klären, ob es in der Vergangenheit Symptome einer Manie oder Hypomanie gab, können zum Screening der Mood Disorder Questionnaire (MDQ) und die Hypomanie Checkliste (HCL-32) eingesetzt werden. Ein Screening alleine reicht noch nicht zur Diagnosestellung.
Eingesetzt werden kann das Strukturierte Klinische Interview für DSM-5-Störungen (SCID-5-CV). Das Interview erfasst durch seine Fragen die Diagnosekriterien der bipolaren Störungen.
Es ist hilfreich, wenn Patient*innen ein Stimmungstagebuch führen. Die Informationen aus dem Stimmungstagebuch können gewinnbringend im Gespräch mit Ärzt*innen und Psychotherapeut*innen genutzt werden.
Es ist sehr hilfreich, Angehörige einzubeziehen um retrospektiv Phasen der bipolaren Störung und deren Intensität zu erfragen. Natürlich erfolgt der Einbezug von Angehörigen nur, wenn Patient*innen zustimmen.
Wenn eine Diagnose bereits gestellt wurde, können Fragebögen zur Selbstauskunft wie die Manie-Selbstbeurteilungsskala (MSS) oder die Allgemeine Depressions- und Manie-Skala (ADMS) sinnvoll sein, damit Betroffene den Schweregrad der Manie bzw. Depression angeben können. Wenn bei einem Menschen akut eine manische Episode vorliegt, wird jedoch häufig die Fähigkeit, das eigene Verhalten zu reflektieren, reduziert sein.
Vor Beginn einer Psychotherapie müssen Ärzt*innen den körperlichen / organischen Zustand von Patient*innen bewerten im Konsiliarbericht. Gegebenenfalls ist zu untersuchen, ob eine organisch bedingten Manie / Hypomanie vorliegt. Dazu ist der Ganzkörperstatus zu erheben und eine neurologische Untersuchung durchzuführen sowie eine weiterführende Diagnostik. Zu bedenken ist auch, dass es bei einer ganzen Reihe an Substanzen und Medikamenten zum Auftreten von Manien / Hypomanien kommen kann.
Davon abgesehen haben Menschen mit einer bipolaren Störung vermehrt körperliche Erkrankungen (zum Beispiel kardiovaskuläre oder endokrinologische Erkrankungen wie Diabetes mellitus), die einer ärztlichen Behandlung bedürfen.
Differentialdiagnostisch muss unter anderem beachtet werden:
Es ist häufig der Fall, dass zusätzlich zu einer bipolaren Störung auch eine weitere psychische Störung vorliegt (Komorbidität). Zu den häufigen Komorbiditäten gehören Angststörungen, Substanzmissbrauch / Substanzstörungen, Impulskontrollstörungen, Essstörungen, ADHS und Persönlichkeitsstörungen.
Die Rate an Substanzmissbrauch / Substanzabhängigkeit (Alkohol, Cannabis etc.) bei Patient*innen mit einer bipolaren Störung liegt Schätzungen zu Folge bei bis zu 90%.
Es wird davon ausgegangen, dass es nicht eine einzige Ursache gibt für bipolare Störungen, sondern dass es sich um eine multifaktorielle Verursachung handelt. Anhand von Vulnerabilitäts-Stress-Modellen wird versucht, das Auftreten der Störung zu erklären:
Für die genetische Mitverursachung spricht die familiäre Häufung von bipolaren Störungen: So haben Kinder von Betroffenen ein mehrfach erhöhtes Risiko, selbst an einer bipolaren Störung zu erkranken. Natürlich wird nicht die bipolare Störung direkt vererbt, wohl aber die Neigung, eine bipolare Störung zu entwickeln.
Es gibt medikamentöse und ergänzende psychotherapeutische Behandlungen zur Stabilisierung der Stimmung, die es den Betroffenen und ihren Angehörigen ermöglichen, mit der Störung zu leben. Die Behandlungsweise unterscheidet sich in Abhängigkeit vom aktuellen Zustand von Patient*innen:
Wenn eine bipolare Störung diagnostiziert wurde, wird im Allgemeinen eine Medikation zu empfehlen sein (Goodwin & Jamison 2007). Medikamente zur Behandlung psychischer Störungen werden auch als Psycho-Pharmaka bezeichnet (ein "Pharmakon" ist ein Arzneimittel).
Etwa ein Drittel der Menschen mit einer bipolaren Störung, die eine kontinuierliche Behandlung mit Medikamenten bekommen, bleibt ganz symptomfrei. Das bedeutet andererseits: Die meisten Patient*innen werden auch mit Medikation Phasen der bipolaren Störung erleben. Mit Medikation verläuft die Erkrankung jedoch meistens deutlich weniger gravierend.
Die zur Verfügung stehenden Wirkstoffe können nach verschiedenen Prinzipien eingeteilt werden, z.B. in Antidepressiva, Stimmungsstabilisierer und atypische Neuroleptika. Stimmungsstabilisierende Medikamente (wie Lithium) stellen den Hauptpfeiler für die langfristige präventive Behandlung sowohl für die Manie als auch für die Depression dar.
Es ist äußerst wichtig, sich vom behandelnden Arzt ausführlich erklären zu lassen, was das Ziel der Medikation ist, welche Wirkung davon erwartet werden kann (und welche nicht), wie die Einnahme erfolgen sollte. Es ist wichtig, Fragen, Probleme, Unklarheiten und Nebenwirkungen in Bezug auf die Medikation mit dem behandelnden Arzt zu besprechen bei jedem Termin. Die meisten Patient*innen sind irgendwann stark versucht, die Medikamente abzusetzen. Das ist einerseits verständlich. Andererseits steigt dadurch enorm das Risiko für einen Rückfall in der Zukunft. Die häufigsten Gründe, Medikamente abzusetzen sind:
Zusätzlich und in Ergänzung zur medikamentösen Therapie ist eine Psychotherapie empfehlenswert. Zu den am besten bewährten und wissenschaftlich untersuchten Psychotherapien gehört die Kognitive Verhaltenstherapie (KVT). Es gibt mehrere KVT-Behandlungsprogramme (Manuale) bei bipolaren Störungen.
In einer KVT werden Betroffene angeleitet, zum Experten über die Erkrankung zu werden, sodass sie mehr Kontrolle über die Störung zu bekommen. Das Ziel ist es, mehr Balance und Stabilität zu erzielen. Innerhalb der KVT geht es um die Behandlung depressiver Symptome, manischer / hypomanischer Symptome sowie um die Rezidivprophylaxe. Wenn aktuell eine depressive Symptome vorhanden sind, entspricht das therapeutische Vorgehen weitgehend demjenigen für unipolare Depressionen.
Eine KVT zur Rückfallprophylaxe kann aus diesen Elementen bestehen (vgl. Meyer, Hautzinger 2013):
Nachweislich wirkt sich die Einbezug von Bezugspersonen (Angehörigen) sehr positiv auf den Therapieverlauf aus.
Bei den psychoanalytisch begründeten Psychotherapieverfahren mangelt es an kontrollierten, randomisierten Studien über die Wirksamkeit laut wissenschaftlicher Leitlinie.
Eine KVT kann in diesen Krankheitsphasen angewendet werden:
Es gibt bislang keine empirischen Belege, dass eine Psychotherapie oder Psychoedukation bei der Behandlung einer akuten manischen Episode wirkt. Hier bedarf es mehr Forschung in Zukunft.
Bipolare Störungen haben eine Belastung nicht nur für Patient*innen selbst zur Folge, sondern insbesondere für die mit ihnen zusammenlebenden Angehörigen. Angehörige fühlen sich oft verunsichert und hilflos. Deswegen ist es hilfreich und wichtig, dass Angehörige beraten und informiert werden.
T. D. Meyer (2014): Mal himmelhoch, mal abgrundtief. Bipolare Störung - Hilfen für Betroffene und Angehörige
Deutsche Gesellschaft für Bipolare Störungen e.V. | www.dgbs.de | Patientenbroschüre: Im Wechselbad der Gefühle. Manie und Depression. Ratgeber für Betroffene und Angehörige | Informationsschrift für Patient*innen und Angehörige
Bipolaris - Selbsthilfevereinigung für Manie und Depression in Berlin und Brandenburg | www.bipolaris.de | Kostenlose Beratung unter Tel. 030-12064247 und Beratung@bipolaris-mail.de
International Society for Bipolar Disorders | www.isbd.org
Thomas Melle: Die Welt im Rücken. Rezension: Zwischen Messias-Komplex und tiefer Scham. Rezension: Waghalsiger Ritt durch das Gefühlschaos einer bipolaren Störung
Meyer, T. D. & Hautzinger, M. (2013): Bipolare Störungen. Kognitiv-verhaltenstherapeutisches Behandlungsmanual
Goodwin,, F. K. & Jamison, K. R. (2007): Manic-depressive illness. Bipolar disorders and recurrent depression
Früherkennungs- und Therapiezentrum für Kinder und Jugendliche mit beginnenden Psychosen und bipolaren Störungen der Charité Berlin | www.kinder-und-jugendpsychiatrie.charite.de
Frühinterventions- und Therapiezentrum für junge Erwachsene mit beginnenden psychischen Krisen im Vivantes Klinikum Am Urban in Berlin-Kreuzberg (FRITZ am Urban): www.fritz-am-urban.de
Deutschlandfunk. Sprechstunde 7/2019: Bipolare Störungen. Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt