Anorexia nervosa

Die Anorexia nervosa (AN) wird auch als Magersucht bezeichnet. Charakteristisch ist der Wunsch, abzunehmen / die Angst vor Gewichtszunahme, die intensive Beschäftigung mit der Figur, dem Körpergewicht und der Ernährung und die Abhängigkeit der Selbstbewertung von der Figur und dem Körpergewicht.

 

 

Die AN ist gekennzeichnet durch diese diagnostischen Kriterien:

 

(1) Betroffene haben Untergewicht. 

© Nomad_Soul – stock.adobe.com
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(2) Sie wenden ein Muster an zielorientierten Verhaltensweisen an, um das niedrige Körpergewicht zu erzielen / aufrechtzuerhalten wie...

  • eine eingeschränkte Nahrungsaufnahme,
  • selbst-induziertes Erbrechen,
  • exzessiver Sport.

Trotz Untergewichts besteht oft Angst davor, dick zu sein oder dick zu werden.

  • Menschen mit einer AN vermeiden oft Lebensmittel mit hohen Fett- oder Kohlenhydratanteilen sowie hochkalorische Nahrung.
  • Sie denken in Kategorien von "erlaubten" und "nicht erlaubten" Lebensmitteln.
  • Oftmals zeigt sich ein zwanghaft ritualisiertes Essverhalten (sehr langsames essen, intensives Kleinschneiden der Nahrung, hochselektive Auswahl an Nahrungsmitteln).
© RioPatuca Images – stock.adobe.com
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(3) Betroffene nehmen ihre Körperform (z.B. den Bauch, die Oberschenkel) als zu dick wahr, auch wenn Untergewicht vorliegt (Körperschemastörung).

 

Die Selbstbewertung von Menschen mit einer AN hängt sehr stark ab von der Figur / vom Körpergewicht.

© Photographee.eu – stock.adobe.com
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Betroffene haben oft hohe Anforderungen an sich selbst und sind gleichzeitig sehr selbstkritisch. Die Essstörung und eine ausgeprägte Leistungsorientierung stellen Versuche dar, das geringe Selbstwertgefühl zu kompensieren.

 

Diese Folgen der Essstörung begünstigen das Auftreten einer Depression mit gedrückter Stimmung, Verlust von Freude, Schuldgefühlen und weiteren Symptomen. Auch der Hungerzustand (Starvation) an sich ist eine körperliche Bedingung, die mitverursachend sein kann für eine depressive Symptomatik.


Essstörungen bei Jugendlichen verändern das Zusammenleben in der Familie / Partnerschaft: Wenn Angehörige das Untergewicht oder das selektive Essverhalten ansprechen, können Streitigkeiten oder das Verheimlichen des Verhaltens die Folge sein.


Die Mangelernährung wirkt sich körperlich auf die meisten wichtigen Organe aus, bis hin zu lebensbedrohlichen Zuständen. Es kommt u. a. zu einer Störung des endokrinen Systems, die sich bei Frauen und Mädchen durch ein Ausbleiben der Monatsblutung zeigt.

 

Die Mangelernährung führt auf der psychischen Ebene häufig zu Reizbarkeit und einer depressive Stimmungslage. Oft zeigt sich ein rigides Denken, ein starkes Bedürfnis nach Kontrolle (zwanghaftes Denken und Verhalten), Konfliktvermeidung und Probleme im Umgang mit negativen Gefühlen (wie Ärger und Wut).

Körpergewicht

Bei Erwachsenen

Die Bewertung des Körpergewichts ist anhand von Formeln (BMI = kg/m2) vorzunehmen. Einen Überblick bietet z.B. der BMI-Rechner für Erwachsene der Deutschen Adipositas-Gesellschaft.

 

ICD-10: Ein Body-Mass-Index von ≤ 17,5 kg/m2 bei Erwachsenen gilt in der ICD-10 als Gewichtskriterium der AN.

 

ICD-11: Ein BMI von < 18,5 kg/m2 bei Erwachsenen gilt in der ICD-11 als Gewichts-Kriterium der AN.

 

AN mit signifikant niedrigem Körpergewicht: BMI 14,0 bis kleiner als 18,5.

AN mit gefährlich niedrigem Untergewicht: BMI < 14,0 kg/m2.

 

DSM 5: 

BMI unter 15,00 = extremer Schweregrad.

BMI 15,00 bis 15,99 = gravierender Schweregrad.

BMI 16,00 bis 16,99 = moderater Schweregrad.

BMI 17,00 oder darüber = leichter Schweregrad.

Diese Einteilung ist u.a. deswegen sinnvoll, da die Mortalität deutlich erhöht ist bei extremem Untergewicht. Anorexia nervosa hat im Vergleich zu anderen psychische Erkrankungen die höchste Mortalitätsrate. Bei einem BMI von unter 15 kg/m2 bei Erwachsenen sollte eine störungsorientierte stationäre Behandlung erwogen werden.

 

"Zielgewicht": Ein gesundes Gewicht bei Erwachsenen liegt in einem Bereich über dem von der WHO als Mindestgewicht festgelegten BMI von 18,5 kg/m2 bis zu einem BMI von 24,9 kg/m2. Im Rahmen einer Behandlung wird oftmals ein Zielgewicht von 20 kg/m2 angestrebt.


Bei Kindern und Jugendlichen

Bei Kindern und Jugendlichen ist der BMI nicht am aussagekräftigsten aufgrund von altersabhängigen Veränderungen der Körperproportionen. Es sollten stattdessen BMI-Altersperzentilen genutzt werden. Hilfreich ist die Seite des Kinderarztes Dr. Daniel Gräfe pedz.de

 

ICD-11: Das Unterschreiten der 5. Altersperzentile bei Kindern und Jugendlichen gilt in der ICD-11 als Kriterium.

 

AN mit deutlichem Untergewicht: Zwischen der 5. und der 0,3. Altersperzentile.

AN mit gefährlich niedrigem Untergewicht: < 0,3. Altersperzentile.

 

Leitlinien: Als Kriterium für Untergewicht wird in den Leitlinien ein Unterschreiten der 10. BMI-Perzentile vorgeschlagen. Als extremes Untergewicht und Indikation für eine stationäre Behandlung gilt das Unterschreiten der 3. BMI-Perzentile bei Kindern und Jugendlichen.

 

"Zielgewicht": Als Richtwert für das anzustrebende Zielgewicht wird bei einer Behandlung meist die 25. Altersperzentile (altersadjustierte BMI-Perzentile) angestrebt. Dieses Gewicht ist häufig mit der Rückkehr der Regelblutung verbunden.


Subtypen der AN; Unterscheidung AN von Bulimia nervosa

Man unterscheidet zwischen dem restriktiven Typ der AN und dem bulimischen Typ der AN, das heißt dem Binge-Eating/Purging-Typ. Bei letzterem Typ treten Essanfälle auf bzw. "Purging"-Verhalten (das englische Verb "to purge" bedeutet "entleeren") wie selbstinduziertes Erbrechen. Die Essanfälle werden im ersten Moment von Patient*innen oft als entlastend und spannungsregulierend erlebt. Kurz darauf ist das Erleben aber dominiert durch Angst aber vor einer drohenden Gewichtszunahme.

 

Die Unterscheidung zwischen dem bulimischen Typ der Anorexia nervosa (AN) und der Bulimia nervosa (BN) geschieht vor allem über das Körpergewicht: Bei Normalgewicht wird die Diagnose einer BN gestellt, bei Untergewicht AN vom bulimischen Typ. 

 

Vermutlich in ca. einem Drittel bis der Hälfte der Fälle geht eine AN später in eine Bulimia nervosa über.


Diagnostik

Körperliche Diagnostik

Eine körperliche Diagnostik durch einen Arzt / eine Ärztin ist notwendig. Mangelernährung hat viele körperliche Folgen. Deswegen dient die medizinische Diagnostik der Einschätzung der unmittelbaren Gefährdung und dem Erkennung möglicher Komplikationen.

 

Gewichtsabnahme, Veränderungen beim Appetit und dem Essverhalten können auch anders verursacht sein als durch eine AN. Eine weitere Funktion der Diagnostik ist deswegen die Fragestellung, ob andere Ursachen für den Gewichtsverlust vorliegen (Differenzialdiagnose) wie z.B. endokrinologische oder gastrointestinale Erkrankungen. Zu denken ist beispielweise an Zöliakie, Morbus Crohn, Insulinmangel-Diabetes. Außerdem dient die Diagnostik der Erkennung relevanter komorbider körperlicher Erkrankungen.

 

Die empfohlene initiale Diagnostik besteht aus:

  1. Anthropometrie: Größe, Gewicht, Puls, Blutdruck; bei Jugendlichen Pubertätsstatus nach Tanner.
  2. Internistische Untersuchung: Unter anderem mit EKG und Ultraschall (Abdomen).
  3. Neurologische Untersuchung.
  4. Labor.

Da die AN zu vielfältigen körperlichen Veränderungen führt, sind auch im Verlauf einer ambulanten Psychotherapie medizinische Untersuchungen notwendig. In Abhängigkeit vom Initialbefund und der Ausprägung der Symptomatik können Intervalle für Folge-Untersuchungen festgelegt werden. 

 

Mit zunehmender Dauer der Erkrankung steigt das Risiko für schwere körperliche Folgeschäden, z.B. für die Entwicklung einer Osteoporose oder Komplikationen des Herz-Kreislaufsystems. Studien weisen außerdem auf Schäden der Gehirnentwicklung aufgrund von Mangelernährung (Kachexie) hin.


Standardisierte psychotherapeutische Diagnostik

Falls der Verdacht auf eine Essstörung besteht, wird überprüft, ob die Kriterien einer Essstörung nach dem Diagnosesystem ICD der Weltgesundheitsorganisation (WHO) erfüllt sind. Dazu dient die Exploration der Jugendlichen und der Bezugspersonen einschließlich der Anamneseerhebung. Wichtig ist der Einsatz von strukturierten Interviews.

 

Als Goldstandard in der Diagnostik der Anorexia Nervosa gilt die Eating Disorder Examination für Erwachsenen (EDE) bzw. die Eating Disorder Examination für Kinder (ChEDE) und Jugendliche im Alter von 8 bis 14 Jahren. Die Durchführung des EDE / ChEDE dauert etwa 45 Minuten. Neben dem strukturierten Interview gibt es einen Fragebogen (Questionnaire) zur Selbstbeurteilung für Erwachsene (EDE-Q) sowie für Kinder und Jugendliche im Alter von 8 bis 14 Jahren (ChEDE-Q).

 

Erfasst werden diese Subskalen:

  • Gezügeltes Essen (Restraint Scale)
  • Essensbezogene Sorgen (Eating Concern)
  • Gewichtssorgen (Weight Concern)
  • Figursorgen (Shape Concern)

Ein Strukturiertes Inventar für Anorektische und Bulimische Essstörungen zur Expertenbeurteilung (SIAB-EX) steht außerdem für die Diagnostik zur Verfügung.

 

Neben allgemeinen Fragebögen (Youth Self Report - YSR; Child Behaviour Checklist - CBCL) gibt es spezifische Fragebögen, die zur Diagnostik eingesetzt werden können. Z.B. das Eating-Disorder-Inventory 2 (EDI-2): Es misst u.a. das Schlankheitsstreben, Unzufriedenheit mit dem Körper und Perfektionismus.


Komorbidität

Es ist häufig, dass zusätzlich zu einer AN weitere Störungen vorliegen. Bedeutsam erhöhte Raten beziehen sich auf depressive Störungen (Depressive Episode und Dysthymie), Angststörungen wie die Soziale Phobie und Zwangsstörungen, der Missbrauch bzw. die Abhängigkeit von Substanzen (Drogen / Alkohol) und Persönlichkeitsstörungen (oftmals Cluster B und Cluster C).

 

Betrachtet man nicht nur Persönlichkeitsstörungen im engeren Sinne, sondern Persönlichkeitszüge im erweiterten Sinne, zeigen sich oft beispielweise Zwanghaftigkeit, Perfektionismus und Angepasstheit.


Verursachung

Die epidemiologische Forschung hat durch Querschnittsuntersuchungen und Längsschnittsuntersuchungen Risikofaktoren für die AN identifiziert. Zu den am besten gesicherten gehören Diätverhalten und Gewichtssorgen.

 

Generell ist bei der Verursachung der AN von einem multifaktoriellen Geschehen auszugehen: Biologische (genetische) Faktoren, psychische Faktoren und soziale Umweltfaktoren (familiäre, kulturelle) wirken zusammen. Man spricht vom biopsychosozialen Modell.

 

Biologische Faktoren:

Genetische Faktoren: Zwillingsstudien zeigen, dass die Vererbbarkeit (Heritabilität) der AN hoch ist. Weibliche Angehörige ersten Grades zeigen im Vergleich zu Frauen ohne familiäre Belastung ein ca. 11-fach höheres Risiko, ebenfalls am Vollbild einer AN zu erkranken.

 

Psychische Faktoren:

Ein niedriges Selbstwertgefühl steht in Verbindung mit Essstörungen, genauso wie Perfektionismus. Der Verzicht auf Nahrung und Gewichtsverlust werden von Betroffenen häufig als Leistung betrachtet, ähnlich wie gute Noten in der Schule. Das Erbringen dieser subjektiven Leistung führt zu einem größeren Selbstwertgefühl und zu mehr erlebter Selbstkontrolle.

 

Aus entwicklungspsychologischer Sicht wird diskutiert, ob Patientinnen mit einer AN Schwierigkeiten haben, die körperlichen Veränderungen während der Pubertät zu bewältigen.

 

Soziale Faktoren:

Gesellschaftliche / soziokulturelle Faktoren: In westlichen Ländern ist ein extrem schlanken Schönheitsideals bei junger Frauen vorherrschend. Influencer*innen auf Instagram, YouTube, TikTok, Snapchat befördern häufig dieses Schlankheitsideal ohne dies direkt anzusprechen. Dadurch entsteht bei vielen jungen Frauen eine Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper. In diesen Ländern gibt es deutlich mehr Menschen mit Essstörungen. Dies begünstigt Unzufriedenheit mit der eigene Figur. Auch die Peer Group (die Gleichaltrigengruppe in der Schule oder im Freundeskreis) kann zu einem Gruppendruck beitragen. Gerade in der Pubertät besteht eine Anfälligkeit für die Entwicklung selbstkritischer Gedanken bezüglich des Aussehens, also auch in Bezug auf die Figur und das Körpergewicht.

 

Familiäre Interaktion: Als problematische familiäre Faktoren gelten ein geringer elterlicher Kontakt, hohe Erwartungen der Eltern, ein geringes Zusammengehörigkeitsgefühl in der Familie (Kohäsion), ein geringer affektiver Ausdruck, ein hohes Ausmaß an elterlicher Kritik.


Therapie der AN

Die drei Therapie-Settings

<<Für die Behandlung der AN gibt es in Deutschland grundsätzlich drei mögliche Behandlungssettings: 

das stationäre Setting, das teilstationäre / tagesklinische Setting und das ambulante Setting>>, berichtet die Leitlinie. Welches Behandlungssetting anzuraten ist, richtet sich nach dem Schweregrad der Erkrankung und danach, ob die Aussicht auf einen ambulanten Therapieerfolg groß genug ist. Eine stationäre Behandlung sollte nicht nur als „letzte Möglichkeit“ angesehen werden, sondern als eine Behandlungsoption.


Stationäre und teilstationäre Therapie

Eine stationäre oder teilstationäre Behandlung sollte bei kritischem Untergewicht durchgeführt werden und wenn zusätzliche Störungen wie eine emotional-instabile Persönlichkeitsstörung bzw. zusätzliche Problembereiche vorliegen wie Suizidalität, ausgeprägte Selbstverletzungen, häufiges Erbrechen, festgefahrene ungünstige Interaktionen in der Familie und eine mangelnde Bereitschaft von Patient*innen zur aktiven Mitarbeit an den therapeutischen Maßnahmen.

 

Die konkrete Arbeit am Essverhalten und den mit dem Essen verbundenen Ängsten ist ein zentrales Therapieelement bei einer stationären Behandlung. Dies beinhaltet die Einhaltung einer Mahlzeitenstruktur, die Vorgabe von Essensmengen, begleitetes Essen und Übungen z.B. bei der Nahrungsauswahl. Etwa ein bis drei Mal pro Woche werden Patient*innen gewogen.

 

Gegen Ende einer stationären Therapie ist es von entscheidender Bedeutung, den Transfer erreichter Veränderungen in den Alltag gezielt vorzubereiten. Die meisten Rückfälle ergeben sich innerhalb des ersten Jahres nach Entlassung.


Therapeutische Wohngruppe

Eine therapeutische Wohngruppe für Jugendlichen / junge Erwachsene sollte erwogen werden, wenn die Unterstützung zu Hause in der Familie nicht ausreicht oder die dortigen Lebensumstände nicht gesundheitsförderlich sind. Der juristische Begriff für diese Hilfeform nennt sich Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche beziehungsweise Hilfe für junge Volljährige. Diese Hilfeform muss beim Jugendamt (Allgemeiner Sozialer Dienst) des Wohnortes beantragt werden.


Versorgungslücken & Versorgungsprobleme

Versorgunglücken bestehen für Patientinnen, bei denen eine AN vorhanden ist, die jedoch nicht über Krankheitseinsicht und Veränderungsmotivation verfügen.

 

Aufgrund der ausgeprägten Ambivalenz von Patientinnen mit einer AN gegenüber einer Behandlung ist die Gefahr vorzeitiger Behandlungsabbrüche allgemein groß. Risikofaktoren für einen frühen Behandlungsabbruch sind unter anderem: Niedriges 

Wunschgewicht, stark ausgeprägtes Misstrauen, impulsive Verhaltensweisen mit Alkoholkonsum, Suizidversuche. 


Behandler*innen

Bei der Therapie der AN sind fast immer mehrere Behandler*innen beteiligt:

  1. Psychotherapeut*innen, die mit den Patient*innen selbst und mit den Bezugspersonen arbeiten. Bei Kindern und Jugendlichen ist es unbedingt erforderlich, Angehörige in die Behandlung einzubeziehen; Eltern bekommen konkrete Hilfestellung für Essensituationen. Dies trägt vermutlich wesentlich zum Therapieerfolg bei.
  2. Hausärzt*in / Fachärzt*in
  3. Gegebenenfalls Sozialarbeiter*innen
  4. Gegebenenfalls Ernährungsberater*innen

Eine engmaschige Abstimmung zwischen den Behandler*innen ist notwendig für den Therapieerfolg.


Evidenz zur Medikation

Die Studienlage ist zu gering, um Empfehlungen für eine Medikation in Bezug auf die AN abzuleiten. Auch in Bezug auf komorbide Begleitsymptome der AN wie eine depressive Stimmung kann durch die Studienlage nicht abgeleitet werden, dass eine Medikation (z.B. mit Antidepressiva) den Behandlungsverlauf verbessert.


Störungsmodell der KVT

Die kognitive Verhaltenstherapie (KVT) betrachtet die prädisponierenden, auslösenden und aufrechterhaltenden Faktoren psychischer Störungen. Bei der AN steht im Zentrum des Störungsmodells das eingeschränkte Essverhalten. Es gibt Hinweise dafür, dass die Folgen des Hungerzustandes (Starvation) entscheidend zur Aufrechterhaltung der Erkrankung beitragen.

 

Problembereiche wie ein niedriges Selbstwertgefühl, eine geringe Selbstwirksamkeitserwartung / Kontrollüberzeugung oder zwischenmenschliche Probleme sind oftmals weitere Faktoren, die in der Therapie bearbeitet werden.

 

Bei der bulimischen Form der AN zeigt sich oft ein Teufelskreis in Bezug auf die Aufrechterhaltung der Essstörung: Das gezügelte Essverhalten und die damit verbundene geringe Energieaufnahme führt zu Heißhunger und kann Essanfälle hervorrufen, daraufhin zeigen manche Patient*innen aus Angst vor einer Gewichtszunahme umso mehr ein gezügeltes Essverhalten, welches wiederum zu Heißhunger und Essanfällen führt.


Therapieziele

Grundlegende Therapieziele bei der AN sind:

 

(1) Wiederherstellung und Halten eines angemessenen Körpergewichts in Bezug auf das Alter und die Größe.


(2) Normalisierung des Essverhaltens

 

(3) Behandlung der körperlichen Folgen des restriktiven Essverhaltens und des Untergewicht.

 

(4) Behandlung der Schwierigkeiten, die der Essstörung zugrunde liegen. Betrachtet werden dabei das kognitive, emotionale und zwischenmenschliches Verhalten.

 

(5) Förderung der sozialen Integration (z.B. Besuch der Schule / der Ausbildungsstelle).

 

(6) Das Ende jeder Behandlung beinhaltet eine „Rückfallprophylaxe“: Patient*innen werden darauf vorbereitet, auf auftretende Probleme hilfreich zu reagieren durch die erlernten Bewältigungsstrategien.

 

In Deutschland wurde bislang eine wöchentliche Gewichtszunahme von 500g pro Woche empfohlen, während in angelsächsischen Ländern im stationären Setting eine Zunahme von 1–2 kg pro Woche empfohlen wird.

Für Patientinnen mit AN können die allgemeinen Ernährungsempfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) herangezogen werden. Viele Patient*innen mit AN ernähren sich vegetarisch oder vegan. Eine vegetarische Ernährung ist sowohl für Erwachsene als auch für Jugendliche geeignet; Heranwachsende müssen jedoch darauf achten, einen Nährstoffmangel zu vermeiden. Eine vegane Ernährung hält die DGE im gesamten Kindesalter für ungeeignet.


Behandlungsbausteine einer ambulanten KVT

In der kognitiven Verhaltenstherapie (KVT) wird davon ausgegangen, dass ein längerdauerndes Diätverhalten und restriktives Essverhalten maßgeblich ist sowohl für die Entstehung, als auch für die Aufrechterhaltung der AN. Es kommt zu einer Vermeidung spezifischer, meistens energiereicher Nahrungsmittel. Daher ist ein wichtiges Element einer KVT die Veränderung dieser Verhaltensprobleme (z. B. fehlende Mahlzeitenstruktur, Essrituale, selektive Nahrungsauswahl).

 

Hier ist ein beispielhafter grober Überblick, welche Behandlungsbausteine in einer ambulante Psychotherapie vorkommen können:

 

1. Genaue Beobachtung des Essverhaltens durch ein Selbstbeobachtungsprotokoll.

 

2. Informationsvermittlung zu diesen Themen:

  • Symptome der Anorexia nervosa,
  • Folgeschäden der Essstörung,
  • Mindest-Normalgewicht (25. BMI-Altersperzentile),
  • Gesundheitsfördernde Ernährung.

3. Erarbeitung eines individuellen Störungsmodells

 

4. Formulieren von Therapiezielen (Besprechung des Zielgewichts mit wöchentlichem Wiegen), Festlegen eines Therapievertrags. Diese Therapievereinbarung beinhaltet das Zielgewicht, Vorgaben für eine wöchentlich zu erreichende Gewichtszunahme und ggfs.

 

5. Arbeit an den Behandlungszielen: Normalisierung des Gewichts & Normalisierung des Essverhaltens

  • Problemanalyse: Identifikation auslösender und aufrechterhaltender Bedingungen für gestörtes Essverhalten

6. Arbeit den weiteren Behandlungszielen: Reduktion von Problemen, die der Essstörung zugrunde liegen.


Behandlung ohne Einverständnis

Bei Patientinnen mit AN ist bei körperlicher Gefährdung und zu diesem Zeitpunkt fehlender Bereitschaft für eine medizinisch erforderliche Behandlung zu klären, inwieweit die Erkrankung die Einsichts- und/oder Entscheidungsfähigkeit so beeinträchtigen, dass Interventionen gegen ihren Willen erforderlich sind.

 

Besonders bei Kindern und Jugendlichen mit AN fehlt nicht selten die Einsichtsfähigkeit und die Bereitschaft für eine Therapie. Bei ausgeprägter krankheitsbedingter Reduktion der Einsichtsfähigkeit durch die Mangelernährung oder bei massiver Angst vor Gewichtszunahme sollte auch bei noch nicht unmittelbar drohender vitaler Gefährdung eine Behandlung auch ohne explizites Einverständnis der Jugendlichen eingeleitet werden, laut Leitlinie. Ambulant tätige Psychotherapeut*innen können Befürchtungen haben, eine solche "Zwangsbehandlung" in die Wege zu leiten, dennoch kann sie notwendig sein.

 

Bei minderjährigen Patientinnen müssen die Sorgeberechtigten beim Familiengericht am Wohnort eine solche Behandlung beantragen (§1631b BGB).

 

"Kann ein Volljähriger auf Grund einer psychischen Krankheit oder einer körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung seine Angelegenheiten ganz oder teilweise nicht besorgen, so bestellt das Betreuungsgericht auf seinen Antrag oder von Amts wegen für ihn einen Betreuer". Aber gegen den freien Willen eines Volljährigen darf ein Betreuer nicht bestellt werden, heißt es im §1896 BGB.

 

Die Genehmigung von Zwangsmaßnahmen gemäß § 1906 BGB im Rahmen einer 

Heilbehandlung setzt voraus, dass die Patientin 1. einwilligungsunfähig ist, 2. zuvor versucht (und 

dokumentiert) worden ist, sie von der Notwendigkeit der ärztlichen Maßnahme zu überzeugen, 3. die 

ärztlichen Zwangsmaßnahmen zum Wohl der Patientin erforderlich sind, um einen drohenden 

erheblichen gesundheitlichen Schaden abzuwenden, 4. erheblicher gesundheitlicher Schaden durch 

keine andere der Patientin zumutbare Maßnahme abgewendet werden kann und 5. der zu erwartenden 

Nutzen der ärztlichen Zwangsmaßnahme die zu erwartenden Beeinträchtigungen deutlich überwiegt.

 

Wenn die AN zu einem lebensbedrohlichen Zustand geführt hat, kommt ein Unterbringungsverfahren nach § 1906 BGB in Betracht. Voraussetzungen dafür sind:

  1. Die Patientin ist einwilligungsunfähig
  2. Es wurde versucht, die Patientin von der Notwendigkeit einer ärztlichen Maßnahme zu überzeugen
  3. Ärztliche Zwangsmaßnahmen sind zum Wohl der Patientin erforderlich, um einen drohenden erheblichen gesundheitlichen Schaden abzuwenden
  4. Ein erheblicher gesundheitlicher Schaden kann durch keine andere der Patientin zumutbare Maßnahme abgewendet werden
  5. Der zu erwartenden Nutzen der ärztlichen Zwangsmaßnahme überwiegt deutlich die zu erwartenden Beeinträchtigungen deutlich überwiegt.

Außerdem sind die Psychisch-Kranken-Gesetzen der einzelnen Bundesländer zu beachten (§ 312 FamFG).

Atypische AN

Patientinnen, die eine Therapie aufsuchen, weisen oftmals nicht alle AN-Symptommuster vollständig auf, die im Klassifikationssystem dargestellt sind, sodass zu prüfen ist, ob eine "atypische", "nicht näher bezeichnete" oder "sonstige" Essstörung zu klassifizieren ist.

 

Die Behandlungsnotwendigkeit und Beeinträchtigung von Betroffenen mit einer atypischen Form der AN ist oftmals gleich groß wie bei vollsyndromalen Störungen.

 

Die Leitlinie besagt, dass beim Vorliegen einer subsyndromalen AN die Behandlung analog zur AN-Behandlung erfolgen soll.

Kliniken in der Nähe

Empfehlenswert sind Kliniken, die spezialisiert sind auf Essstörungen. Dazu gehören zum Beispiel:

 

Charité Berlin: Essstörungs-Sprechstunde:  Bei Bedarf bietet die Charité eine stationäre Behandlung an.

Angebot der Charité Berlin für Kinder und Jugendliche

 

Salus Klinik Lindow

 

Fontane-Klinik in Mittenwalde / Motzen

Weiterführende Informationen

Deutsche Gesellschaft für Ernährung

IN FORM - Rezepte: Herausgeber: Deutsche Gesellschaft für Ernährung | Von Ernährungswissenschaftlern überprüfte gesunde Rezepte | www.inform-rezepte.de


Medien

Planet Schule: "Der Feind auf meinem Teller" | Video | www.planet-schule.de

 

Waage e.V.: Die Beratungsstelle in Hamburg bietet Podcasts an zum Thema Essstörungen | www.waage-hh.de

 

Ninette - dünn ist nicht dünn genug: Interaktiver Comic | 11 Folgen | Mit Zusatzinfos | Nominiert für den Grimme Online Award |  www.ninette.berlin


App

Recovery Record: Ein Ernährungsprotokoll ist Standard in jeder Behandlung von Essstörungen. Patienten können es klassisch auf Papier ausfüllen oder digital z.B. mit der App Recovery Record. Google Play | App Storewww.recoveryrecord.de


Wissenschaftliche Leitlinie

Wissenschaftliche Leitlinie für Ärzt*innen und Psychotherapeut*innen sowie Patient*innen-Leitlinie: 

 

Diagnostik und Therapie von Essstörungen | Leitlinie gültig bis 5/2023 | www.awmf.org


Links

Dick & Dünn: Beratungszentrum zum Thema Essstörungen, Berlin |www.dick-und-duenn.de

 

ANAND: Der Verein aus München bietet Informationen über Essstörungen | www.anand.de

 

Deutsche Gesellschaft für Ernährung: Die DGE bietet Informationen über gesunde Ernährung | www.dge.de

 

IN FORM:  Essstörungen - was kann ich tun? | Herausgeber: Bundesgesundheitsministerium, Bundesministerium für Ernährung | Informationen für Lehrkräfte | Informationen für Eltern

 


Fachliteratur

Jacobi, C. & Beintner, I. (2021): Anorexia nervosa